Zukunftsstudie Adequacy 2050Robust, flexibel und europäisch vernetzt 

Nachtaufnahme Erde Südeuropa

Im großen Interview ordnen unsere Experten Dr. Massimo Moser und Georgios Savvidis aus der strategischen Netzplanung von TransnetBW die Ergebnisse der Studie Adequacy 2050 ein.

Massimo und Georgios: Ihr arbeitet bei der strategischen Netzplanung bei TransnetBW. Was sind die Aufgaben dieses Bereichs?

Massimo Moser: Unsere Arbeit lässt sich in zwei große Bereiche gliedern. Erstens geht es darum, die Voraussetzungen für einen stabilen Betrieb des Übertragungsnetzes im laufenden Alltag zu schaffen. Zweitens planen wir vorausschauend, wie das Stromnetz der Zukunft aussehen muss, damit es die Energiewende und den Ausstieg aus fossilen Energieträgern tragen kann.

Dazu haben wir einen klaren gesetzlichen Rahmen: Wir sind verpflichtet, die Entwicklung des Netzes technisch und wirtschaftlich optimal zu planen. Das geschieht regelmäßig im Netzentwicklungsplan (NEP), der alle zwei Jahre veröffentlicht wird. Daneben gibt es auf europäischer Ebene Prozesse wie den Ten-Year Network Development Plan.

Neben diesen gesetzlich geregelten Aufgaben erstellen wir strategische Studien aus eigener Initiative. Also freiwillige Analysen, die über die Pflicht hinausgehen. Sie dienen dazu, frühzeitig zu erkennen, wo künftige Herausforderungen liegen könnten. Beispiele sind die Studien Stromnetz 2050, Energy System 2050 und Adequacy 2050. Dort greifen wir Themen auf, die in den regulären Planungsprozessen oft zu kurz kommen, etwa langfristige Wetterveränderungen, Sektorenkopplung oder Flexibilitätsfragen.

Was war der Anlass für die Studie Adequacy 2050?

Massimo Moser: Wir wollten verstehen, wie ein klimaneutrales Energiesystem unter allen Bedingungen zuverlässig funktionieren kann. Bisherige europäische und nationale Analysen untersuchen meist nur Zeiträume bis Mitte der 2030er Jahre. Uns hat interessiert, wie das System im Jahr 2050 aussieht, wenn die Stromversorgung nahezu vollständig auf erneuerbaren Energien basiert.

Dafür haben wir verschiedene Unsicherheiten durchgespielt: von extremen Wetterjahren über geändertes Verbrauchsverhalten bis zu Import- und Exportabhängigkeiten. Die Idee war, nicht nur bestehende Annahmen zu prüfen, sondern bewusst über den Horizont hinauszuschauen.

Dr. Massimo Moser, Teamleiter Energiesystem

Die Grundfrage lautete: Wie robust ist die Stromversorgung in einem System mit fast 100 Prozent Wind- und Solarenergie?

Massimo Moser

Wie seid ihr methodisch gestartet?

Georgios Savvidis: Wir haben uns ins Jahr 2050 versetzt und überlegt, wie eine dekarbonisierte Welt aussehen könnte, mit E-Mobilität, aktiven Verbrauchern und anderen Anforderungen an das Stromsystem.

Daraus haben wir fünf Themencluster entwickelt:

  1. Wetter und Klimawandel
  2. Dezentraler Flexibilitätsgrad (Prosumer, E-Mobilität, Wärmepumpen)
  3. Zentrale Flexibilität und Rolle von Wasserstoffkraftwerken
  4. Europäische Vernetzung und Energie-Souveränität
  5. Systemverhalten bei unterschiedlichem Nutzer- und Marktverhalten

Wir haben mit unseren Energiesystem-, Markt- und Netzmodellen eine integrierte Modellkette aufgebaut. Sie ermöglicht, das Energiesystem gesamthaft zu betrachten, also die Wechselwirkungen zwischen Strom, Wärme, Verkehr und Industrie.

Das war methodisch ein großer Schritt: Wir mussten unsere Tools weiterentwickeln, die Datenbasis anpassen und verschiedene Fachteams zusammenbringen.

Wichtig war, dass wir nicht nur Stromflüsse, sondern auch sektorübergreifende Rückkopplungen betrachten. Zum Beispiel, wie Elektrolyseure Wasserstoff produzieren, der später wieder in Kraftwerken genutzt oder in der Industrie eingesetzt wird. So entsteht ein realistisches Bild des vernetzten Energiesystems.

Welche Rolle spielen Prosumerinnen und Prosumer?

Geogios Savvidis: Nur weil jemand eine PV-Anlage mit einem Batteriespeicher hat, heißt das noch lange nicht, dass diese Anlagen wirklich flexibel oder gar marktdienlich eingesetzt werden. Und wenn nur die Hälfte der Haushalte auf Preissignale reagiert, merken wir das sofort im Gesamtsystem. Das treibt die Kosten nach oben, in Deutschland um gut anderthalb Milliarden Euro pro Jahr. Deshalb müssen wir in der Planung viel stärker berücksichtigen, wie Menschen tatsächlich handeln, und nicht nur, wie Modelle es idealisieren.

Dr. Georgios Savvidis, Ingenieur Energiemarktanalysen

Egal, ob Batteriespeicher oder Wärmepumpe: smart heißt nicht automatisch marktdienlich.

Georgios Savvidis

Wie muss ich mir die Modellierung vorstellen?

Massimo Moser: Zuerst haben wir als Referenz den bestehenden Netzentwicklungsplan (NEP) in unserer eigenen Modellkette nachgebildet. So konnten wir überprüfen, ob unsere Modelle das bekannte System korrekt abbilden. Anschließend haben wir in Szenarien untersucht, was passiert, wenn sich Rahmenbedingungen verändern: Wetter, Marktverhalten oder Erzeugungseinheiten.

Wir haben historische Wetterjahre, aber auch künftige Klimaprojektionen verwendet, um zu sehen, wie sich Erderwärmung und veränderte Ertragsmuster auf die Stromversorgung auswirken. Außerdem haben wir das Verhalten von Prosumern simuliert: Wie reagieren Haushalte mit PV-Anlage und Batteriespeicher auf Marktpreise? Was, wenn nur die Hälfte flexibel agiert?

Parallel haben wir neue Technologien, insbesondere Wasserstoffkraftwerke, in die Modellierung aufgenommen.

Welche sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?

Wettervariabilität ist ein zentraler Faktor. 

Wind- und Solarerträge schwanken von Jahr zu Jahr erheblich. In Deutschland können die Windstromerträge um bis zu ± 15 Prozent differieren, was jährliche Abweichungen von rund 150 TWh bedeutet. Nur mit einem „Durchschnittsjahr“ zu planen, unterschätzt das Risiko. Künftig müssen Wettervariabilität und Klimawandel systematisch in die Planung integriert werden.

Europäische Vernetzung senkt Kosten und Risiken.

Je stärker Europa elektrisch und perspektivisch auch im Wasserstoffsektor verbunden ist, desto robuster und günstiger wird das Gesamtsystem. Eine Verdopplung der grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten könnte Einsparungen von bis zu 18 Milliarden Euro pro Jahr bringen.

Dezentrale Flexibilität ist entscheidend. 

Wenn nur 50 % der Haushalte oder weniger flexibel auf Preissignale reagieren, steigen die europäischen Systemkosten um etwa 11 Mrd. €, für Deutschland um 1,5 Mrd. € jährlich. Die notwendige Flexibilität kann nur genutzt werden, wenn der Roll-out von Smart Metern, dynamischen Tarifen und intelligenten Steuerungen gelingt.

Wasserstoffkraftwerke sind unverzichtbar. 

Fällt dezentrale Flexibilität weg, müssen rund 9 GW zusätzliche H₂-Kraftwerksleistung gebaut werden, um Versorgungslücken zu vermeiden und das Versorgungssicherheitsniveau zu halten.

Robuste Planung statt Idealannahmen.

Die künftige Netz- und Kraftwerksplanung sollte nicht von idealem Nutzerverhalten ausgehen, sondern Unsicherheiten bewusst berücksichtigen. Kombinationen aus ungünstigem Wetter und geringerer Marktteilnahme können sonst zu Versorgungslücken führen.

Zentrale und dezentrale Flexibilität ergänzen einander. 

Haushaltsnahe Lösungen (Wärmepumpen, E-Autos, Batteriespeicher) senken im Alltag die Systemkosten. Zentrale Anlagen wie Wasserstoffkraftwerke sichern dagegen Resilienz bei Dunkelflauten oder Extremsituationen. Beide Ebenen werden gebraucht.

Welche Rolle spielt der Klimawandel in eurer Analyse?

Massimo Moser: Wir haben auch zukünftige Klimaszenarien in die Modelle integriert. Dabei zeigte sich, dass Extremwetterlagen wie heiße, windarme Sommer deutlich stärkere Stresssituationen im System verursachen können.

Wir plädieren dafür, die Klimaziele einzuhalten. Wir wollten aber in einer What-if-Analyse herausfinden, wie das Netz reagieren muss, wenn wir es nicht schaffen.

Massimo Moser

Unsere Analysen basieren unter anderem auf Daten und Austausch mit dem Deutschen Wetterdienst (DWD) und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Ziel war es, nicht zu prognostizieren, dass Klimaziele verfehlt werden, sondern zu prüfen: Wie würde das System reagieren, wenn es passiert?

Das Ergebnis: Auch bei ambitionierter Klimapolitik muss die Strom- und Netzplanung künftige Extremjahre mitdenken, um Engpässe zu vermeiden.

Warum habt ihr Klimawandel-Szenarien durchgespielt?

Massimo Moser: Wir wollten nicht vorhersagen, ob Klimaziele erreicht werden oder nicht – das ist nicht unsere Aufgabe. Uns ging es darum, zu verstehen, was mit dem Energiesystem passiert, wenn bestimmte Wetterentwicklungen eintreten. Und da zeigt sich sehr klar: Extremjahre wie heiße, windschwache Sommer oder lange Dunkelflauten können das System viel stärker belasten, als man mit einem Durchschnittsjahr abbilden könnte. Deshalb haben wir diese Klimaszenarien ganz bewusst als Stresstests genutzt. Sie helfen uns zu sehen, ob unser System auch dann noch stabil bleibt, wenn die Realität schwieriger ist als die Annahmen, mit denen wir heute planen.

Es reicht also nicht mehr aus, in der Netz- und Kraftwerksplanung mit einem Durchschnittsjahr zu arbeiten?

Massimo Moser: Gerade die extremen Wetterjahre fordern das System. Unsere Analyse zeigt sehr klar: Wind- und PV-Erträge schwanken von Jahr zu Jahr massiv. Wenn man diese Variabilität nicht mitdenkt, plant man zu optimistisch. Das betrifft übrigens nicht nur Erzeugung, sondern auch Verbrauch und Flexibilität. Wir brauchen also Planungsprozesse, die robuster sind und mehrere Wetterjahre berücksichtigen. Erst dann sehen wir wirklich, wo das System an seine Grenzen kommt.

Welche politischen oder planerischen Schlussfolgerungen zieht ihr aus all dem?

Georgios Savvidis: Drei Punkte sind zentral:

  1. Planungsprozesse robuster gestalten. Die Betrachtung von Wetterextremen muss im Planungsprozess Standard werden.
  2. Flexibilität gezielt fördern. Haushalte müssen technische und ökonomische Anreize erhalten, flexibel auf das System zu reagieren. Das heißt: schneller Roll-out von Smart Metern, dynamische Stromtarife, Vereinfachung regulatorischer Hürden.
  3. Europäische Netzintegration stärken. Der Ausbau der Interkonnektoren ist volkswirtschaftlich sinnvoll. Wichtig sind eine bessere europäische Abstimmung und eine realistische Umsetzungsplanung, einschließlich der nachgelagerten Netzverstärkungen innerhalb der Länder.

Außerdem gilt: Planung sollte realistisch, aber vorausschauend sein – nicht nur kostenoptimal, sondern auch widerstandsfähig gegen Unsicherheiten.

Warum ist die europäische Zusammenarbeit so wichtig?

Georgios Savvidis: Je stärker sich Europa vernetzt, desto stabiler und kostengünstiger wird das Gesamtsystem. Unsere Szenarien zeigen, dass ein ambitionierter Ausbau der Interkonnektoren – über das heute Geplante hinaus – sowohl die Kosten senken als auch die Robustheit gegenüber Wetterextremen erhöhen kann.

Wie wurde die Studie aufgenommen?

Massimo Moser: Wir haben viele Rückmeldungen aus Politik, Wissenschaft und Industrie bekommen und erleben, dass die Studie Diskussionen zur Versorgungssicherheit in Europa anstößt – intern wie extern.

Intern wie extern hat sie Diskussionen ausgelöst, zum Beispiel darüber, wie künftig Wettervariabilität, Flexibilität und Klimarisiken in den offiziellen Prozessen berücksichtigt werden können. Für uns war die Veröffentlichung kein Abschluss, sondern eher der Beginn eines Dialogs. Wir verstehen die Studie als Grundlage für weitere fachliche und politische Diskussionen.

Wir zeichnen Projektionen einer Welt, die 25 Jahre in der Zukunft liegt. Beinahe eine Generation. Die Zukunft wird anders aussehen, als wir sie uns vorstellen. Daher müssen wir nicht nur technisch tiefgreifend planen, sondern auch eine möglichst große Bandbreite an Zukunfts­entwicklungen abdecken.

Georgios Savvidis

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