Selbst erklärt: Systemstabilität„Sicherstellen, dass die Maschine stabil bleibt“

Mirjam König leitet bei TransnetBW das Team Systemstabilität. Diese Abteilung analysiert, wie das Energiesystem auf Störungen reagiert, tauscht sich deutschlandweit dazu aus und leitet Maßnahmen für die Zukunft ab. Im Interview spricht sie über den Systemumbau „im Flugbetrieb“, neue Akteure wie Elektrolyseure und KI-Rechenzentren sowie die zentralen Erkenntnisse aus dem Systemstabilitätsbericht.

Mirjam, du leitest das Team Systemstabilität bei TransnetBW. Was macht ihr genau?

In meinem Team geht es speziell um dynamische Netzanalysen. Wir schauen – bildlich gesprochen – mit einer Glaskugel in die Zukunft. Unsere Glaskugel ist eine komplexe Simulationssoftware, in der das gesamte europäische Stromnetz abgebildet ist. Damit können wir Szenarien durchspielen: Wie verhält sich das Netz im Jahr 2030? Was passiert, wenn irgendwo eine Leitung ausfällt oder die Spannung plötzlich einbricht?

Unser Ziel ist, das Netz so zu gestalten, dass es sich nach Störungen selbst stabilisiert. Wenn wir feststellen, dass das nicht gelingt, entwickeln wir Maßnahmen. Das können neue Technik sein oder angepasste Regeln.

Mirjam König
Mirjam König

Ihr arbeitet mit einem digitalen Abbild des gesamten Netzes?

Genau. Wir simulieren dynamische Vorgänge, also das, was im Sekunden- oder Millisekundenbereich passiert. Früher haben große Kraftwerke solche Störungen automatisch ausgeglichen. Jetzt, da immer mehr erneuerbare Anlagen am Netz sind, müssen auch sie solche Fähigkeiten übernehmen. Das ist eine enorme Veränderung.

Stichwort Energiewende: Wie würdest du eure Rolle dabei beschreiben?

Energiewende bedeutet ja, dass wir die konventionellen Kraftwerke abschalten und stattdessen Erneuerbare integrieren. Das passiert, während das System weiterläuft. Ich sage oft: Wir bauen das Flugzeug während des Flugs um. Das europäische Stromnetz ist die größte Anlage des Kontinents Europa, und es wird im laufenden Betrieb umgebaut. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass diese Maschine stabil bleibt. Während sich ihr Inneres komplett verändert.

Inwiefern verändert die Energiewende auch die Akteure im Netz?

Neben klassischen Erzeugern kommen neue Beteiligte hinzu: große Batteriespeicher, Wasserstoff-Elektrolyseure, Rechenzentren, perspektivisch auch viele Wärmepumpen. Die werden einen Lastverlauf haben, den wir noch nie gesehen haben. All diese Anlagen greifen ins System ein und sie müssen sich netzdienlich verhalten.

Deshalb überarbeiten wir derzeit die technischen Anschlussregeln für Erzeuger, Speicher und Großverbraucher. Wer sich ans Netz anschließen will, bekommt klare Vorgaben, welche Eigenschaften seine Anlage haben muss. Dazu gehören heute Stabilitätsfunktionen, die früher selbstverständlich waren.

KI-Rechenzentren sind neu. Wie wirken sie sich auf das Stromnetz aus?

Das ist tatsächlich ein neues Thema, das wir bisher in dieser Form noch gar nicht kannten. Künstliche Intelligenz braucht beim Rechnen enorme Mengen an Energie – und das nicht gleichmäßig, sondern in kurzen, sehr intensiven Phasen. Während der Berechnung steigt der Stromverbrauch extrem an, danach fällt er fast schlagartig wieder ab, wenn die Systeme den Output generieren.

Das führt zu gewaltigen Lastspitzen. Bei kleinen Rechenzentren spielt das kaum eine Rolle, aber wenn wir über Anlagen reden, die die Leistung von mehreren Kraftwerken benötigen, sprechen wir von Schwankungen im Gigawatt-Bereich. Wenn ein KI-Rechenzentrum auf einen Schlag ein Gigawatt Leistung zieht und kurz darauf wieder abfällt, dann sind das Schwankungen, die das Netz stark fordern.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit im Bereich Systemstabilität?

Systemstabilität ist keine Einzeldisziplin. Wir arbeiten eng mit den anderen Übertragungsnetzbetreibern, mit Verteilnetzbetreibern, Herstellern und Forschungseinrichtungen zusammen. Besonders wichtig ist die Roadmap Systemstabilität, die das Bundeswirtschaftsministerium initiiert hat. Dort sitzen regelmäßig Vertreterinnen und Vertreter aus allen Bereichen an einem Tisch: Industrie, Netzbetreiber, Wissenschaft und Politik. Wir entwickeln gemeinsam Prozesse und Maßnahmen, damit das Energiesystem stabil bleibt.

„Es ist wichtig, dass man wirklich alle zusammen an einen Tisch holt und das Ganze zusammen neu denkt. Es müssen alle mitmachen.“

Mirjam König, Teamleiterin Asset Management Systemstabilität

Du leitest auch eine bundesweite Steuerungsgruppe zu Systemplanung und Systemführung. Was genau bedeutet das?

Ich bin Leiterin von einer Steuerungsgruppe in Deutschland, die sich unter anderem mit dem Thema Systemstabilität beschäftigt, ein Zusammenschluss zwischen der Netzplanung und der Systemführung. Wir steuern die Arbeit am Systemstabilitätsbericht und stimmen uns übergreifend zu den Themen der Roadmap Systemstabilität ab.

Das ist auch eine kommunikative Aufgabe: Wir bringen die unterschiedlichen Perspektiven zusammen, von der Forschung bis zu den Netzbetreibern. Mir ist wichtig, dass wir über Hierarchie- und Unternehmensgrenzen hinweg ein gemeinsames Verständnis schaffen. Nur so können wir die notwendigen Maßnahmen wirklich umsetzen.

Welche Themen und Herausforderungen hebt ihr im Systemstabilitätsbericht heraus?

Ein zentraler Punkt ist ganz klar das Thema Gridforming: die Fähigkeit von Anlagen, das Netz aktiv zu stützen und zu formen. Früher haben das automatisch die großen konventionellen Kraftwerke übernommen. Sie gaben dem Netz über ihre rotierenden Massen Stabilität und eine feste Frequenz vor.

Wenn wir heute sagen, dass Erneuerbare netzbildend (grid-forming) werden müssen, heißt das: Windparks, Solaranlagen oder auch Batteriespeicher sollen künftig genau diese Rolle übernehmen können. Sie müssen nicht nur Energie einspeisen, sondern dem Netz im Fehlerfall Halt geben.

Ein weiteres wichtiges Thema sind Elektrolyseure. Sie gelten als Schlüsseltechnologie für Wasserstoff, aber sie sind gleichzeitig große elektrische Verbraucher. Auch sie müssen sich netzdienlich verhalten. Also so gesteuert werden, dass sie nicht zusätzlich Schwankungen verstärken, sondern im besten Fall sogar zur Stabilität beitragen.

Eine große Rolle spielt auch die Momentanreserve – Trägheitsersatz zur Abfederung schneller Frequenzänderungen. In klassischen Kraftwerken entsteht sie ganz natürlich durch Schwungmassen, also durch physische Trägheit der Turbinen, die kurzfristig Energie abgeben, wenn sich die Netzfrequenz ändert. Diese Eigenschaft geht uns verloren, wenn wir auf leistungselektronische Anlagen umsteigen. Deshalb müssen wir neue Wege finden, diese Reserve bereitzustellen, etwa durch Batteriespeicher oder andere netzbildende Systeme.

Schließlich sehen wir zunehmende Prognoseunsicherheiten. Wenn etwa die Sonne stärker scheint oder plötzlich Gewitter aufziehen, kann die Einspeiseleistung in Sekundenbruchteilen einbrechen oder ansteigen. Diese Dynamik ist für das Netz eine Herausforderung. Je mehr Erneuerbare einspeisen, desto wichtiger wird es, solche Schwankungen schnell ausgleichen zu können, technisch wie organisatorisch.

Wie sind die Reaktionen auf den Systemstabilitätsbericht?

Ich würde sagen, dass das Bundeswirtschaftsministerium und die Bundesnetzagentur hinter dem Stabilitätsbericht stehen und befürworten, dass die Maßnahmen aufgrund ihrer Dringlichkeit angegangen werden.

Wie blickst du persönlich auf die Entwicklungen in deinem Feld?

Ich bin optimistisch. Die Politik unterstützt das Thema Systemstabilität sehr stark, und es ist allen bewusst, dass wir hier über die Grundlage der Energiewende sprechen. Wichtig ist, dass wir es gemeinsam denken, über alle Netzebenen hinweg.

Beim TransnetBW-Zukunftstag 2025 sprach Mirjam König darüber, was Zukunftsfähigkeit für sie und ihren Bereich bedeutet.

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