22. May 2011

Erklärung der deutschen Übertragungsnetzbetreiber / Auswirkungen des Kernkraftwerk-Moratoriums auf das elektrische System im Jahr 2011/2012 und Empfehlungen der Übertragungsnetzbetreiber zur Aufrechterhaltung eines sicheren Netzbetriebs

Erklärung der deutschen Übertragungsnetzbetreiber
Auswirkungen des Kernkraftwerk-Moratoriums auf das elektrische System im Jahr 2011/2012 und Empfehlungen der Übertragungsnetzbetreiber zur Aufrechterhaltung eines sicheren Netzbetriebs
Im Zuge des Kernkraftwerk-Moratoriums der Deutschen Bundesregierung sind nunmehr über 8.000 MW Erzeugungsleistung aus dem deutschen Energieversorgungssystem genommen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf den Betrieb des elektrischen Systems in Deutschland und in Europa. Dank der sehr vorteilhaften Randbedingungen in den vergangenen Wochen (geringe Netzlast, hohe PV-Einspeisung, relativ wenig Windeinspeisung) und des Einsatzes von Sondermaßnahmen der ÜNB konnte die Systemstabilität bisher gewährleistet werden. Doch die deutschen ÜNB sehen insbesondere mit Blick auf das Winterhalbjahr ihren Handlungsspielraum und die verfügbaren Werkzeuge zur Erhaltung der Systemstabilität weitgehend erschöpft.
Situation Sommer 2011
In den ausführlichen Untersuchungen der letzten Wochen, die sich sowohl auf den Zeitraum des Moratoriums als auch danach beziehen, sehen die deutschen ÜNB in den kommenden Sommermonaten eine angespannte, aber beherrschbare Situation, sofern keine außergewöhnlichen Ereignisse in Deutschland oder dem Ausland eintreten. Importe aus dem Ausland sowie Einspeisungen verfügbarer konventioneller und regenerativer Erzeugungseinheiten in Deutschland können den Ausfall der Erzeugungskapazitäten im Sommer kompensieren. Da fünf der acht abgeschalteten Kernkraftwerke im Süden Deutschland lokalisiert sind, haben die Lastflüsse von Nord nach Süd tendenziell zugenommen, speziell in Zeiten hoher Windeinspeisung sind die Leitungen noch stärker belastet als vor dem Moratorium.
Bedingt durch die in den Sommermonaten stattfindenden Revisionen von Kraftwerken dürften auch in den kommenden Monaten verstärkt Eingriffe im elektrischen System zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit notwendig werden, um
- in Zeiten hoher Last und somit hoher Nord-Süd-Stromflüsse Verletzungen des (n-1)-Kriteriums zu vermeiden (speziell auf Leitungen zwischen den Regelzonen von 50Hertz und von TenneT TSO) und im Süden Deutschlands in Folge fehlender Blindleistungserzeugung ein ausreichendes Spannungsniveau zu halten
- in Zeiten niedriger Last und niedriger Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen im Norden eine zu hohe Spannung speziell im Raum Hamburg zu vermeiden.
Fernab von jedem operativen Normalbetrieb ist das elektrische System angespannter denn je, unter Einsatz aller zur Verfügung stehender Werkzeuge im Moratoriumszeitraum aber noch beherrschbar. Durch verstärkten Redispatch von Erzeugungsanlagen, durch Verschiebung und Umplanung von Netzinstandhaltungen und -baumaßnahmen, durch massive Eingriffe in den Strommarkt sowie durch Verschiebungen von Kraftwerksrevisionen werden alle Hebel zur Stabilisierung des elektrischen Systems eingesetzt. Notwendige Instandhaltungsarbeiten und Netzverstärkungen werden auf unbestimmte Zeit hinaus verzögert.
Trotz all dieser Maßnahmen steigt aber das Risiko für Netzstörungen, da die Reserven und Eingriffsmöglichkeiten der Netzbetreiber nahezu aufgezehrt sind. Generell betreiben die ÜNB ihr Netz näher am Limit und setzen bereits im Normalbetrieb einen Großteil ihrer Sicherheitsreserven ein. In Folge dessen sind großflächige Versorgungsausfälle wahrscheinlicher als sonst üblich, falls Ereignisse (sogenannte Mehrfachfehler) eintreten, die über den (n-1)-Fall hinaus gehen.
Die europäischen ÜNB-Nachbarn sowie der europäische Netzverband ENTSO-E wurden entsprechend informiert und sehen die Entwicklung mit Sorge. Die deutschen ÜNB stehen im Kontakt mit den europäischen ÜNB, um mögliche Systemgefährdungen auch mit Unterstützung aus dem Ausland abzuwenden. Besonderes Augenmerk wird derzeit auf die Trockenheit in vielen europäischen Ländern gelegt, die bei Anhalten dieser Bedingungen im weiteren Verlauf des Sommers zu Einschränkungen bei der Erzeugung sowohl in Deutschland als auch in einigen anderen europäischen Regionen (z.B. Frankreich und Alpen) führen kann. Hierzu wurden zwischenzeitlich entsprechende zusätzliche Untersuchungen von ENTSO-E bzgl. dem „Summer Outlook 2011“ angestoßen.
Zusammenfassend möchten die deutschen ÜNB betonen, dass die Situation in den Sommermonaten damit sehr angespannt aber vermutlich beherrschbar sein wird.
Situation Winter 2011
Für den Fall des fortgesetzten Fehlens der 8000 MW für den Zeitraum nach dem Moratorium, insbesondere für den kommenden Winter, wurden ebenfalls exemplarische Analysen durchgeführt. Im Winter steigt der Stromverbrauch in ganz Europa erheblich, die maximale Last in Deutschland liegt über 80 GW. Nach Analyse der ÜNB zeigt die Leistungsbilanz in Deutschland im Winter aufgrund geringerer verbleibender Importmöglichkeiten und ohne Photovoltaik zur Abendspitze kaum noch gesicherte freie Leistung.
Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass unter diesen Rahmenbedingungen und bei Weiterführung des Moratoriums in Süddeutschland an einigen sehr kalten Wintertagen mit geringer Windeinspeisung ca. 2.000 MW an gesicherter Erzeugungsleistung fehlen könnten, um eine verantwortbare Versorgungssicherheit in allen Lastfällen zu gewährleisten. Eine eigenständige Versorgung der Kunden ist dann ernsthaft gefährdet. In Starklastzeiten wäre Deutschland auf Importe angewiesen, deren grundsätzliche Verfügbarkeit nicht gesichert ist, da auch die Nachbarländer zu Starklastzeiten im Winter erfahrungsgemäß nicht immer oder nur schwer in der Lage sind, ihre Last jederzeit eigenständig zu decken.
Die damit verbundenen Risiken für die Systemsicherheit sind aus aktueller Sicht der ÜNB nicht vertretbar. Ursachen dafür sind einerseits eine Gefährdung der bislang ausgeglichenen Leistungsbilanz für Deutschland im Winter (insbesondere bei Ausfall weiterer Kapazitäten) sowie andererseits die Gefahr einer Überlastung im (n-1)-Fall von Teilen des Übertragungsnetzes. Als Folge steigt das Risiko für großflächige Versorgungsausfälle, insbesondere wenn Ereignisse eintreten, die über den (n-1)-Fall hinausgehen. Die ÜNB sehen außerdem die Gefahr eines Spannungskollapses. In den folgenden Tagen werden weitere Untersuchungen durch die FGH zur Vertiefung dieser Erkenntnisse durchgeführt.
Empfehlungen
Um einen sicheren Netzbetrieb auch im Winter zu gewährleisten, empfehlen die ÜNB eine Erhöhung der Kraftwerkseinspeisung im Süden Deutschlands gegenüber der Situation während des Moratoriums um rund 2000 MW für das Winterhalbjahr 2011/12. Theoretisch käme alternativ als ultima ratio eine Lasteinsenkung im gleichen Umfang (Abschaltung von Kunden) in Betracht.
Nachhaltige Abschaltungen von Kraftwerken dürfen nur dann erfolgen, wenn der notwendige Ausgleich der regionalen Leistungsbilanz gewährleistet ist bzw. nachdem der notwendige Netzausbau erfolgt ist, um die Leistungsbilanz über das Netz zu ermöglichen.
Da auch in anderen Ländern Abschaltungen von Kernkraftwerken erwogen werden, empfehlen die deutschen ÜNB der Bundesregierung diese Maßnahmen in jedem Falle europäisch zu koordinieren.
Die ÜNB regen an, dass die Bundesnetzagentur eine detaillierte Ermittlung der freien Kraftwerkskapazitäten in den unterlagerten Netzen vornehmen lässt, um eine noch detailliertere Leistungsbilanz erstellen zu können, als es den ÜNB derzeit – bedingt durch die fehlenden Informationsdurchgriffsmöglichkeiten zu Erzeugern in unterlagerten Spannungsebenen – möglich ist.
Fazit
Aufgrund der weitreichenden Auswirkungen des Moratoriums auf das elektrische System in Europa werden die deutschen ÜNB ihre Nachbarn über Auswirkungen des Moratoriums informieren.
Das elektrische System in Deutschland wird zeitweise mit erheblichen operativen Eingriffen gerade noch (n-1)-sicher betrieben. Im kommenden Winter sehen die ÜNB eine zusätzliche Verschärfung der Situation mit erheblichen Risiken für die Systemsicherheit.
Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass bei Weiterführung des Moratoriums in Süddeutschland, an einigen sehr kalten Wintertagen mit geringer Windeinspeisung, ca. 2.000 MW an gesicherter Leistung fehlen könnten.
Das Risiko für Zwischenfälle im Netz steigt und mehr denn je ist es notwendig, den ÜNB alle nötigen Instrumente an die Hand zu geben, um in kritischen Situationen im Sinne der Systemsicherheit rasch und gezielt eingreifen zu können. Die deutschen ÜNB ersuchen die politischen Akteure, im Rahmen der anstehenden gesetzlichen Novellierungen darauf besonderes Augenmerk zu legen.

Alexander Schilling
Alexander SchillingSpokespersona.schilling@transnetbw.de+49 711 21858-3449